Geistige Stigmatisation
Nun kam, am 7. September 1912 ein ganz entscheidender Tag, dessen Gedächtnis P. Reus alljährlich mit einer neuntägigen Andacht beging. Geben wir wieder dem Pater selbst das Wort: „O gütigstes Herz Jesu! Ich weiß nicht, was ich von Deiner unaussprechlichen Liebe sagen soll. Während der letzten Nacht bin ich verschiedene Male aufgewacht und Du warst bei mir mit Deiner wahrnehmbaren Gegenwart, und ich bat Dich mit zärtlichsten Worten um Deine Liebe. — In der Betrachtung hast Du einige Male auf mich geblickt. Obwohl ich mich dunkel der gestrigen Gegenwart Mariens, Deiner hl. Mutter, erinnerte, hatte ich doch nicht das Glück, sie wahrzunehmen. Obwohl gestern diese Gegenwart meinem Geiste auf das lebhafteste eingeprägt blieb, so daß ich oft in Gedanken wiederholte: Wie ist dies doch möglich, daß die süßeste Mutter zu mir kommt und dies so gewiß war, daß ich noch drei Stunden nachher beim Eintritt in mein Zimmer vorher mein Haupt entblößte in Gegenwart der Mutter, die noch wahrnehmbar gegenwärtig war — heute fühlte ich doch fast nichts davon. — Aber plötzlich überkam mich Deine heftige Liebe, entflammte meinen ganzen Körper, so daß er mir zu brennen schien, und riß mich nach oben, so daß die Arme ausgespannt blieben. Eine ungeheuere Feuerflamme schoß hernieder und ich nahm wahr, wie einige Pfeile in mein Herz geflogen kamen. Ich schrieb dies der Phantasie zu und wollte eine Täuschung vermeiden. Aber ich konnte nicht (die Erscheinung zerstören). Im Gegenteil, ich erkannte, daß fünf Lichtstrahlen sich auf die fünf Stellen meines Leibes richteten, an denen Du Deine hl. Wunden bewahrst. Ich wollte zuerste eine Täuschung meiden und dies Phantasma ausschlagen. Da ich nicht konnte, wehrte ich mich und flehte zu Dir: Nein, meine Liebe! Dies wiederholte ich verschiedene Male, schloß die Hände und zog die Füße von ihrem Orte weg. Es war ein wahrer Kampf. Aber je mehr ich mich wehrte, umso klarer erkannte ich die fünf Strahlen. Objwohl ich nichts mit den Augen sah, war die Vision so klar, daß ich nicht zweifeln konnte, daß ich in meiner Seele Deine heiligsten Wunden empfangen habe… Diese Einprägung der Wunden vollzog sich in ganz kurzer Zeit. Dann ruhte ich ein wenig, wie bestürzt und ermüdet, um sodann in einen Strom von Tränen auszubrechen. Du warst von neuem gegenwärtig und ich opferte mich Dir auf, daß Du mit mir nach Deinem hl. Willen verfügen mögest, wobei ich meiner geistigen Armut und Schwäche eingedenk blieb und Dir für diese unverhoffte Wohltat Dank sagte.“
Weil die Sache ihm selbst, und ihm vielleicht am meisten immer wieder unbegreiflich war und unglaublich vorkommen wollte, hat sich Pater Reus päter die Gründe für die Echtheit der unsichtbaren Wundmale zusammengestellt und unter anderen folgende aufgezählt: „Ich habe die Wundmale nicht gesucht; habe gar nicht daran gedacht; habe mich dagegen gewehrt, als ich sie erhielt. Ich fühlte sie später so heftig, daß ich vor Schmerz zu Boden sank, obwohl ich den festen Vorsatz machte: ich will es ertragen. — Diese Gnade hat mich nie stolz gemacht. Im Laufe der Zeit gewährte mir der göttliche Heiland immer größere Gewißheit, und zwar dadurch, daß das Empfinden der Wundmale beständig wurde und noch immer ist, und zwar auch dann, wenn ich zerstreut bin.“ — Am Heiligen Abend 1916 schrieb er: „In der Betrachtung fühlte ich die Wundmale äußerst stark, und zwar zum erstenmal, während ich im Zimmer hin und her ging. Und so heftig, daß ich laut aufstöhnte und nicht an mir halten konnte. Es schien mir, daß Blut aus meinen Wundmalen floß, was ich bisher nie gefühlt habe. Dies alles geschieht, wie ich glaube, damit die Wundmale um so sicherer feststehen, da ich immer zum Zweifel geneigt bin. Aber ich habe sie schon so oft gefühlt, bei so verschiedenen, ungewöhnlichen unerwarteten Gelegenheiten, daß ich vernünftigerweise nicht mehr zweifeln kann. Wer sollte heute, am Weihnachtsabend, schmerzende Wundmale erwarten? — Ich fühlte sie in knieender Stellung, zu Pferd, in der Kapelle, aber nicht im Zimmer; fühlte sie (andere Male) im Zimmer, aber nicht in der Kapelle; ich fühlte den Schmerz beginnen nach einer Stunde der Betrachtung, ein andermal nach einer halben Stunde, ein paarmal von Anfang der Betrachtung an; fühlte alle Wunden zusammen, fühlte nur eine: die des Herzens; fühlte sie in stechendem Schmerz, fühlte sie zwei Wochen andauernd, fühlte sie ein andermal nur in der nächtlichen Anbetung, fühlte sie nicht, wenn es wahrscheinlich war, daß sie schmerzten.“ — So wollte der Herrr, daß sein Diener die Beweise der unbegreiflichen Liebe, die Jesus selbst uns durch seine Wunden gegeben hat, geheimnisvoll durch seine Gnade fortsetze, und P. Reus hat diese so schmerzliche und ihm doch so teuere Last verborgen 35 Jahre lang, nämlich bis zu seinem Tod, getragen.
Er betrachtete diese Gnade der geistigen Einprägung der Wundmale aber vor allem auch als eine Verantwortung und heilige Verpflichtung. So schrieb er z.B. im Jahre 1918: „Was wollen die mystischen Wundmale, die ohne Zweifel meiner Seele eingeprägt sind? Nur zum Schmuck dienen? Unmöglich. Sie bedeuten etwas, verlangen etwas. Und das werde ich ausführen, allen Schwierigkeiten zum Trotz.“ — Die große Wirkung der Gnaden, die P. Reus erhielt, und zugleich ein untrüglicher Beweis für ihre Echtheit war vor allem ein glühendes — in diesem Fall buchstäblich glühendes, ja „brennendes“ — Streben nach vollkommener und steter Liebe und nach gänzlicher, innerer Umgestaltung in Christus, die Quelle und das Urbild aller Heiligkeit. Immer wieder in den Aufzeichnungen tritt dieses brennende Liebesverlangen hervor, z.B.; „Nichts verlange ich, als Dich mit seraphischer Liebe zu lieben. — Ich bat Dich, Deine Gnaden zu beschleunigen, damit ich Dich vollkommen liebe. — Gib, o mein süßester Jesus, daß ich gänzlich in Dich umgestaltet werde! — „Ihn“ lieben, das war und ist mein einziger Gedanke. — Gib, daß ich Dich wahrhaft liebe und meinen Leib mit Deinen heiligen Wunden durchbohre durch Abtötung und allseitige Heiligkeit! — Ich wiederholte eine Zeitlang, was ich schon so oft immer und immer wieder sagte: Eile! eile! eile!, d.h., daß ich in Dich umgewandelt werde!“ — Dabei hatte er einmal, am 9. Mai 1915, folgende Erkenntnis: „Oft bat ich, daß Du mich umwandelst. Ich glaube, erkannt zu haben: wenigstens die erste Umwandlung müsse statthaben, indem ich meine irdischen Wünsche durch Deine hl. Wünsche, meine Beweggründe zum Handeln durch Deine hl. Handlungsweise ersetze, so daß mein Herz zum handeln bestimmt wird durch dieselben ewigen Gründe, wie Dein süßestes Herz… Du hast Dich gewürdigt, mir einen ungewöhnlich großen Geschmack an geistlichen Dingen einzugießen und hast mich erleuchtet, so daß ich einsah, wie unvollkommen meine Handlungsweise ist.“ — Am Herz-Jesu-Fest des Jahres 1915 blieb er bis Mitternacht in der Kapelle „kniend vor dem Altar und wiederholte immer: Heile mich, o Herr, wandle mich um in Dich!… Mach, daß ich Dich mit aller Kraft liebe!“ — Unter dem Datum des 14. November 1912 lesen wir das schöne Wort, das aber treffend die unbedingte Entschiedenheit des P. kennzeichnet: „Ich ruhte an Deinem hl. Herzen und bat Dich in aller Demut, Deine Gnade zu beschleunigen und mich zur vollständigen Vereinigung zuzulassen, denn meine Seele hungert und dürstet nach Dir und nimmt jede Bedingung an, die Dein süßester Wille machen will. O mein Jesus, gib, daß ich Dich liebe!“
Es wird sich wohl mancher wundern über die zärtlichen Worte und Ausdrücke, die P. Reus gebraucht, wenn er vom Heiland oder seiner heiligsten Mutter spricht. Am meisten ist aber vielleicht der darüber verwundert, der den Pater in seinem gewöhnlichen Umgang kannte und damit wußte, daß er das gerade Gegenteil von jeder Sentimentalität war. Mit Recht hat ein ehemaliger Mitnovize ihn als den „Mann ohne Kompromisse“ bezeichnet. — Mit der gleichen Geradheit und „Kompromißlosigkeit“ hat er Gott auch in der Tat und im Opfer über alles geliebt und hat er wirklich alle Bedingungen und Wünsche erfüllt, die Gott ihn wissen ließ. Daher sein besonderer Zug zur inneren und äußeren Abtötung und schließlich sein Gelübde „immer das zu tun, was er als vollkommener erkenne“. — Am 4. November 1912 spricht er von seinem großen Verlangen, „ärmlich zu leben“, damit Gott ihm die Gnade einer größeren Vereinigung geben könne; am 30. des gleichen Monats gesteht er: „O süßestes Herz Jesu! Es scheint mir, daß Du mich schnell erhört hast, indem Du mich auf unwiderstehliche Weise antreibst, Speise und Trank einzuschränken, damit Du mich für Deine Gnade empfänglich machst, ohne daß der Körper Schaden leidet. Gib, daß ich Dir gefalle!… Gib, daß ich Dich wahrhaft liebe als Liebhaber des Kreuzes!“ Im Mai 1915 erlaubte der Missionsobere P. Zartmann dem P. Reus — neben dessen gewöhnlichen Bußwerken — folgende Übungen: jede Woche einmal bis Mitternacht vor dem Allerheiligsten in der Kapelle zu bleiben, dreimal in der Woche kein Frühstück zu nehmen und immer nur auf Brettern zu schlafen. Nach Erhalt des betreffenden Briefes schrieb P. Reus in seinem Tagebuch: „Der natürliche Mensch in mir hatte keine besondere Freude an dieser Erlaubnis, weil ich ein niedrig und erdhaft gesinntes Geschöpf bin. In meinem Herzen fühlte ich einige Minuten lang gar nichts von irgendeiner seelischen Regung. Aber nachher, als ich ins Zimmer getreten war, fühlte ich (auf dem Gange in unmittelbarer Nähe der Türe) mich sozusagen körperlich auf wunderbare Weise eingeschlossen in Dein hl. Herz mit der Versicherung: ich werde dich beschützen..“ — Diesen Schutz hatte der Diener Gottes in der Folge sehr nötig; denn, wie zu erwarten war, bekämpften manche Mitbrüder und Vorgesetzte des P. Reus immer wieder, namentlich dessen Fasten, das sich nicht, wie die anderen Bußübungen, verheimlichen ließ. Aber gegen Ende seines Lebens konnte der Pater folgende „Eigentümlichkeit“ verzeichnen: „Diejenigen, die — sicher in guter Absicht, um mein Leben nicht in Gefahr zu bringen — am meisten Widerstand leisteten gegen die Bußwerke, die ich früher verrichtete, sind nun alle tot: Obere verschiedenen Grades, und ich lebe noch. Doch habe ich nie etwas getan ohne Erlaubnis der Oberen, und wenn Einschränkung verlangt wurde, sie pünktlich befolgt“. Über seine sonstigen Abtötungen sagt folgende Bemerkung aus dem Jahre 1935 genug: „Einmal las ich, daß manche jeden Tag die Opfer aufschreiben, die sie bringen. Der Gedanke gefiel mir. Als ich an die Ausführung ging, merkte ich, daß ich ungefähr mein ganzes Leben aufschreiben müßte, wegen der „ständigen Abtötung in allen Dingen“. Am 8. Januar 1916 legte er schließlich mit Erlaubnis des Missionsoberen das Gelübde ab, das er schon seit Jahren als Anregung im Herzen getragen hatte und das er dann geradezu als seinen „Lebensberuf“ bezeichnete: immer das zu wählen und zu tun, was er als vollkommener erkenne. Und er konnte am Ende seines Lebens bekennen: „Überlegterweise, glaube ich, habe ich es nie übertreten“.